Das hatte sich nun nach zwei Pausen nicht abgezeichnet: Jedes Mal, wenn der Vorhang bei „Walküre“ bei den Bayreuther Festspielen fiel, wurde fröhlich applaudiert. Nicht ganz so euphorisch wie an den Vortagen, aber den Zuschauern gefiel offenbar, was sie hörten, und was sie sahen: Im optischen Mittelpunkt stand im wahrsten Sinne des Wortes fließende Kunst, vom Inspizientenpult aus geleitet von dem berühmten österreichischen Aktionskünstler Hermann Nitsch. Seine zehn Mitarbeiter leisteten Schwerstarbeit, um die Emotionen in Farbe von Walküre auf den Riesenleinwänden und auf dem Boden fließen zu lassen.
Indes: Beim Schlussapplaus wurde plötzlich heftig gebuht – wenngleich andererseits viele im Publikum aufstanden, um dem alten Herrn mit Krücke, dem Wotan-Sänger Tomasz Konieczny Halt bot, ihren Respekt für dessen Kunstwerk zu zollen. Was das buhende Volk von Nitsch erwartet hatte, ist unklar. Denn er ist genau dafür bekannt, was er gezeigt hat. Andererseits gilt es (hoffentlich nicht nur in Bayreuth) der Kunst. Und die darf nicht fett und gefällig daherkommen. Sie muss unbequem sein. Jubelorgien sind allzu gefällig.
Doch in diesem Sog hat es offensichtlich auch den Debütanten Pietari Inkinen kalt erwischt. Der finnische Dirigent, von dem die Künstler auf dem Grünen Hügel voller Begeisterung reden, erlebte nicht gerade ein Waterloo, aber auch nicht das Gegenteil davon. Im Sturm seiner Jugend erobert er jedenfalls das Bayreuther Festspielhaus nicht. Dabei hat er durchaus interessante Arbeit abgeliefert, Details sehr deutlich und farbenreich wie auf der Nitsch’en Bühne herausgearbeitet. Vielleicht ist aber in dieser Detailverliebtheit die Spannung auf der Strecke geblieben. Vor allem im zweiten Akt zog sich die Musik leicht Richtung Kaugummi. Ob das aber diese Empörung aus dem Auditorium rechtfertigt? Jedenfalls zeigte es, dass Inkinen noch nicht sofort angekommen ist auf dem „Grünen Hügel“ und der Ring 2022 (oder heißt er 2020?), der nächstes Jahr vollständig in der Regie von Valentin Schwarz auf die Bühne kommt, vielversprechend, aber heute noch nicht der Selbstläufer ist.
Indes ist es eine großartige Idee von Festspielchefin Katharina Wagner, im „Notjahr“ 2021 mehrere Kunstrichtungen zu verbinden und ihr eigenes Genre, die Regie, für den „Ring des Nibelungen“ in die Warteschleife zu schicken. Als Gründe nannte sie bei der Pressekonferenz vor der Eröffnung der Bayreuther Festspiele, dass die Premiere in diesem Jahr aus Dispositionsgründen nicht möglich gewesen sei, denn freilich können nicht fünf neue Stücke in einem Jahr gewuppt werden. Stattdessen hat sie im Rahmen von „Diskurs Bayreuth“ den Ring 20.21 zugeschmiedet, der an einem Tag über mehrere Bühnen geht.
Erst mit „Rheingold – immer noch Loge“, einem Auftragswerk, das am selben Tag uraufgeführt wurde (hier geht es zum Bericht), einer „konzertant“ aufgeführten Walküre im Festspielhaus, dem Drachenkampf, als Virtuel Reality gestaltet vom künftigen Parsifal-Regisseur Jay Scheib, und der mittlerweile im Festspielpark unübersehbar installierten feuerroten Faden-Skulptur von Chiharu Shiota als Beitrag über die Götterdämmerung. Übrigens waren die Drachenkampf-Stationen bei der Premiere gleich gut belegt, und Regisseur Jay Scheib, der aus USA angereist war, sichtlich begeistert vom Andrang und den erstaunten Reaktionen.
Große Stimmen brauchen kein großes Brimborium
Die Hauptrolle des Ring 20.21 spielt aber natürlich die Walküre im Festspielhaus. Eine interessante Inszenierung ohne Regie. Die Sänger sind einfach Sänger, spielen optisch keine Rolle, sondern sind einheitlich in schwarze Roben, eine Art Messgewand, gekleidet. Das mag nicht die Zukunft des Musiktheaters sein, zeigt aber auch, dass große Stimmen ohne großes Brimborium auskommen. Eine Lise Davidsen als Sieglinde, ein Klaus Florian Vogt als Siegmund müssen nicht mehr tun als – zu singen. Und das ist per se eine wahre Freude – ob im Frack, üppigen Designer- oder bescheidenem Messgewand. Auch Tomasz Konieczny, ganz kurzfristig für Günther Groissböck als Wotan in diesem Jahr eingesprungen, hat die richtige Kraft und Stimmlage, um diese Aufgabe zu meistern. Sehr gut gefällt auch Bayreuth-Debütant Dmitry Belosselskiy, dessen kräftiger Bass dem Hunding echt fiesen Ausdruck gibt.
In die musikalische Großartigkeit passen die perfekt eingespielten Walküren Kelly God (Gerhilde), Brit-Tone Müllertz (Ortlinde), Stephanie Houtzeel (Waltraute), Christa Mayer (Schwertleite), Daniela Köhler (Helmwige), Nana Dzidziguri (Siegrune), Marie Henriette Reinhold (Grimgerde) und Simone Schröder (Rossweisse). Christa Mayer ist außerdem eine hervorragende Fricka, die alle Emotionen – von lockend bis ziemlich wütend – in der Stimme hat. Ganz große Klasse! Iréne Theorin als Brünnhilde hat insgesamt starke „Konkurrenz“, mit der sie sich nicht komplett behaupten kann, aber am Ende viel verdienten Applaus bekommt.
Wer sich auf bildende Kunst einlassen mag, auf Aktionskunst, kriegt jedoch gar nicht genug von den Farbspielen, die Hermann Nitsch an den bühnenfüllenden Leinwänden und dem Boden austragen lässt. Es wird geschüttet und hingeklatscht. Aber alles mit System. Wenn sich Siegmund und Sieglinde annähern, mäandert rosafarben der Farbfluss die Leinwand hinab, die übrigens nach jedem Akt frisch und blank aufgezogen ist und auf neue Farb-Anschläge wartet. Weiß fließt die Unschuld, schwarz das Dunkel. Geht es um Nothung, das Schwert, wechselt das Spektrum Richtung bräunlich-rot. Blut. Tod.
Hermann Nitsch ist berühmt für sein Orgien-Mysterien-Theater nahe Wien. Ein kleines Stück davon bringt er auf die Bühne des Bayreuther Festspielhauses. Auch wenn es nicht Tierblut ist, mit dem das Kunstwerk geschaffen wird, so gibt es „Opfer“ – in weiß gekleidete auf ein Kreuz gelegte Menschen und am Ende des letzten Aktes einen jungen Halbgekleideten mit verbundenen Augen, der eine Monstranz monströs lang – den gesamten „Feuerzauber“ in die Höhe strecken muss. Die Aussage darin muss man nicht verstehen. Jedoch scheint dieser quälerische Eindruck nach vier beeindruckenden Stunden dann doch zu verstören.
Vielleicht ist das auch ein Grund für die vielen Buhs. Aber damit ist am vierten Festspieltag 2021 wieder so etwas wie „Normalität“ bei den Bayreuther Festspielen eingezogen. Jedenfalls muss diskutiert werden, muss über die Bilder im Kopf auch nach Verlassen des Festspielhauses nachgedacht werden. Wie schrecklich, wenn sich alle einig wären.
Das gilt natürlich nicht für die Sängerinnen und Sänger. Sie bekommen zurecht massiven Applaus. Hermann Nitsch spaltet. Ebenso wie Neu-Bayreuth-Dirigent Inkinen. Die Erklärung bleibt offen. Und umso spannender wird der Blick auf 2022.