Es gibt wohl derzeit wenige Regisseure, die die Scharen in die Oper ziehen, zumal, wenn er Richard Wagner inszeniert. Wenn Tobias Kratzer die Deutung des Stücks übernimmt, ist das Haus voll. So in München, wo Ende Oktober der „Ring des Nibelungen“ von Wagner mit dem „Rheingold“ gestartet wurde. Kratzer setzt auf sein bewährtes Team mit Rainer Sellmaier (Bühne, Kostüme) und Manuel Braun (Video), mit denen er die Tetralogie unter die Lupe nimmt – und erneut hochgesteckte Erwartungen erfüllt. Weniger aufregend ist hingegen die Musik. Mit Ausnahme von Nicholas Brownlee als Wotan und Wiebke Lehmkuhl als Erda sowie mit Abstrichen Sean Panikkar als Loge, bekommen die Sängerinnen und Sänger durchwegs braven Applaus. Das gilt auch für Dirigent Vladimir Jurowski, der das Orchester der Bayerischen Staatsoper München nicht zu großen Wagner-Leistungen führt. Große Anerkennung hat sich Markus Brück und seine kompromisslose Darstellung als Alberich verdient.
Harry-Potter-Mädchen und eine Waffe
Aber von vorn: Und da ist erst einmal völlige Dunkelheit, aus der heraus tiefe Bassklänge kommen. Der Rhein entspringt. Es kann losgehen. Als die Bühne sichtbar wird, erfahren wir: „Gott ist tot“. Alberich hat die These auf eine Kirchenwand gesprayt, bevor er sich vor den temperamentvollen Rheintöchtern hinter einer Säule versteckt. Die Rheintöchter wirken wie zauberhafte Harry-Potter-Wesen, die Alberichs Gier mit spielerischen Zaubereien herausfordern und sogar eine echte Ziege durch den „Kirchenraum“ rennen lassen. Sie necken den Alten, bis es ernst wird – und die Mädels vor lauter Zauberei offensichtlich nicht wissen, was eine Waffe ist – und welche Gefahr sie birgt. Alberich schießt, nimmt sich den Ring (oder was auch immer) und entschwindet.
Ein wesentliches Merkmal dieser Produktion ist, dass es keine überbordenden Bühnenbilder gibt. Der Raum ist dunkel. Walhall ist noch eingerüstet, aber ziemlich fertig. Obergott Wotan fragt sich nur, wie er das alles bezahlen soll. Die Riesen wollen Freia. Auch in dieser Produktion ist Wotans Schwägerin das Opfer, das ohne Hemmung an die Riesen Fasolt und Fafner verschachert wird.
Loge, ein schwarz gekleideter Existenzialist, gehört nicht zu den Götterwesen und steht deshalb interessiert am Rande. Er scheint schon darüber nachzudenken, wie er sein eigenes Spiel spielen kann. Sean Panikkar als Feuersgott gibt als cleverer und verführerischer Berater eine grandiose Ergänzung zu Wotan, der allerdings nicht nur keinen Zweifel an seiner Chefrolle lässt. Als Sänger beweist er ohnedies große Klasse. Brownlees Interpeation ist facettenreich und in keinem Moment angestrengt oder bemüht. Das lässt umsomehr aufhorchen, da er bei den Bayreuther Festspielen derzeit nur die relativ kleine Rolle des Donner im Ring in der Inszenierung von Valentin Schwarz singt. Es wäre keine Überraschung, wenn auch auf dem Grünen Hügel bald mehr von Nicola Brownlee käme…
Spannende Reise nach Nibelheim
Video-Künstler Manuel Braun inszeniert den Abstieg von Wotan und Loge nach Nibelheim als spannende Reise durch die Welt, vorbei an brennenden Kirchen, durch Hochhaus-Schluchten, mit Abstecher beim Herrenausstatter und zum Schluss im Flieger, wo der Gott aus einem Tupperschüsselchen Freias letzten Apfel, fein in Scheibchen geschnitten, verspeist.
Nibelheim finden die beiden schließlich in einer nerdigen Garage, wo Alberich die Brutalität der Welt auf seinen Bildschirmen betrachtet, während Bruder Mime als unterjochter Hiwi am Schreibtisch harrt. Unter ihm ist szenisch wie hierarchisch nur noch der Hund. Eine kluge Symbolik. Überhaupt ist man nicht ständig damit beschäftigt, in dieser Regie irgendwelche Bilder zu deuten. Kratzer zeigt, was er meint und erspart dem Publikum unnötige Effekthaschei. Das heißt nicht, dass es keine Gags gibt. So soll sich die Tupperdose noch als sehr nützlich erweisen. Die Kröte Alberich muss schließlich irgendwie zurücktransportiert werden.
Musikalisch fällt der Eindruck dagegen gemischt aus. Vladimir Jurowski, am Pult des Bayerischen Staatsorchesters, dirigiert stellenweise mit wenig Inspiration. Einige Passagen sind zu laut, zum Beispiel die dramatische Verwandlung von Alberich in einen Drachen, und dann wieder wenig differenziert. Vieles aus Wagners Musik verpufft und wirkt hintereinander abgearbeitet. Es gibt dann doch einige Augenblicke voller Zauber, die zeigen, welches Potenzial in dieser musikalischen Umsetzung steckt.
Doch was Kratzer schafft, ist eine Ensembleleistung, die in ihrer Geschlossenheit beeindruckt. Herausragend ist die Idee, die Prophezeiung Erdas in Zeitlupe zu inszenieren: Eine Vision der Apokalypse, die erst auf der Drehbühne dargestellt und dann rückwärts wieder abgespult wird. Großes „Kino“, ohne Film.
Die stärkste Szene der Inszenierung bleibt jedoch Alberichs Erniedrigung, als er, nackt und seines Hab und Guts beraubt, in einem sakral anmutenden Kirchenraum steht. Er wirkt wie ein Märtyrer, eine eindrucksvolle, tief bewegende Darstellung, die völlig frei von Kitsch, Peinlichkeit oder gar Fremdschämen bleibt.
Der Schlussmoment, in dem die Götter ihren Einzug nach Walhall vollziehen und sich in den Räumen des gotischen Altars niederlassen, während Touristen sie bestaunen (Beitragsbild oben), führt den Bogen zum Anfang des Stücks: Die gesprayte Inschrift „Gott ist tot“ an der Kirchenwand. Was tun die Götter, wenn Gott tot ist? Es bleibt spannend. Die Fortsetzung mit „Walküre“ ist in München allerdings erst 2026 geplant.
Rheingold indes wurde bei diesem Erfolg spontan verlängert und wurde von der Bayerischen Staatsoper auf den Spielplan der Opernfestspiele im Sommer gesetzt. Ironie? Just am 25. Juli ist das Stück wieder zur sehen, es ist der traditionelle Eröffnungstag der Bayreuther Festspiele. Dort startet man an jenem Tag mit „Die Meistersinger von Nürnberg“ in die Saison.
Besuchte Vorstellung: Freitag, 8. November 2024