Dieser „Parsifal“ ist eine Offenbarung. Musikalisch in jedem Fall, optisch nicht ganz so sehr, aber immerhin inklusive einer Weltneuheit, der AR-Brille, die allerdings nur 330 von knapp 2000 Zuschauern auf der Nase haben.
Musikalisch gehört diese Produktion sicherlich zu den Top-Vorstellungen vieler Jahre, ohne Wenn und Aber. Mit Dirigent Pablo Heras-Casado ist Festspielintendantin Katharina Wagner die Entdeckung der Saison gelungen. Der Spanier führt das Orchester, als gebe es keine schwierige Akustik des Festspielhauses. Alles klingt völlig selbstverständlich. Und Heras-Casado leistet sich auch nicht den Fehler, sich in jede Note einzeln zu verlieben und die Sache in die Länge zu schleppen. Als wäre „Parsifal“ und das Bayreuther Festspielorchester zu dirigieren ein Kinderspiel. Das Publikum tobt beim Schlussakkord, feiert den neuen Bayreuther Graben-Magier.
Elina Garanca – eine Offenbarung
Ein sängerisches Ereignis beschert Elena Garanca den Festspielen. Wenn man Garanca sieht und zuhört, wird deutlich, warum sie ein Superstar ist. Sie ist nicht nur eine umwerfende Sängerin mit Sicherheit in jeder Lage und verfügt über sagenhafte Präsenz. Diese Frau ist eine Offenbarung, ihre kühle Verführung des Titelhelden im zweiten Akt so großartig, dass sie gerne noch weiter hätte locken können. Es bleibt zu hoffen, dass es nach drei Einspringer-Vorstellungen von Elena Garanca 2023 im nächsten Jahr eine Fortsetzung über die ganze Saison geben kann.
Fest für den Chor
Wenn großartige Sänger wie Georg Zeppenfeld und Andreas Schager in dieser Reihung quasi erst auf Platz drei folgen, zeigt es, dass Parsifal zu den beglückenden Ereignissen im Festspielhaus gehört, denn die Sängerriege ist durchwegs große Klasse. Georg Zeppenfeld bleibt als Gurnemanz seinem noblen Singstil treu. Und Andreas Schager als Parsifal kann sich ebenfalls zurecht am Ende feiern lassen. Dazu sind mit Derek Welton als Amfortas sowie mit Jordan Shanahan als Klingsor hervorragende Gegenparts gelungen, und Tobias Kehrer macht in der eher kleinen Partie des Titurel großen Spaß. Ebenso sind die Partien der Zaubermädchen, Gralsritter und Knappen keineswegs beiläufig besetzt. Und dann ist da noch der großartige Chor, der zusammen mit seinem Leiter Eberhard Friedrich lautstark klatschend, jubelnd und trampelnd gefeiert wird.
Von Buh und Bravo
Buhs und Bravo folgen im Festspielhaus Bayreuth besonderen Regeln. Es gibt tatsächlich Leute, die kaufen sich sündteuere Tickets, um einen von ihnen nicht goutierten Sänger ausbuhen zu können. Dann gibt es Menschen, die arbeiten sich lautstark an der Regie ab – ohne sich dafür zu interessieren, wer dafür verantwortlich ist, geschweige denn, wie Regisseur und Team aussehen. So bekommen immer wieder mal Dirigenten oder Chorleiter die verbale Prügel ab. In dem Fall (Parsifal III, 12 August 2023) war es Chorchef Eberhard Friedrich, der kurz hinter sich und den geschlossenen Vorhang zeigte, wo die Damen und Herren des Chors standen. Damit verstummten die Zwischenrufe. Selbes Schicksal muss in der vorherigen Vorstellung Pablo Heras-Casado ereilt haben, ehe er als Dirigent identifiziert wurde. Wie peinlich, wenn sich sehr erwachsene Menschen so kindisch aufführen!
Wer nicht einfach per se drauf los pöbeln möchte, ist beim Einführungsvortrag am Vormittag im Festspielhaus (täglich 10.30 Uhr) bestens aufgehoben. Dort sind nicht nur unter anderem auch die Bilder der Regie-Verantwortlichen zu sehen, Sven Friedrich, Direktor des Richard Wagner Museums Bayreuth, ist ein ausgezeichneter, rhetorisch versierter Erzähler und Erklärer von Stück, Herkunft und Regie, zum Beispiel, warum die Gral in dieser Produktion so aussieht, wie er aussieht. Die Arbeit des amerikanischen Regisseurs Jay Scheib ist danach wirklich gut zu verstehen. Die Regie ist zwar relativ zurückhaltend und protzt nicht mit übertriebenen Details. „Es darf auch mal schön sein“, sagt auch Friedrich am Vormittag. Recht hat er.
AR als neue Dimension
Die AR-Brille auf der Nase weckt ein kindliches Staunen auch in großen Zuschauern. „Oh, guck mal, die Taube“, ruft bei der Anprobe der Herr in der hinteren Reihe freudig. Augmented Reality hat schon einmal einen großen Vorteil: Die Inhalte werden nicht von den Köpfen der vorderen Reihen verdeckt, die üppige Blumenpracht wuchert über die hoch aufgetürmte Frisur der Dame im Sichtfeld, genauso wie Batterien, Gewehre oder Handgranaten. Wer zu den 330 „Auserwählten“ unter knapp 2000 im Saal gehört, die eine AR-Brille buchen konnten, erlebt eine neue Dimension, kann aber dennoch das Bühnengeschehen ganz normal mit verfolgen – so es nicht, wie auch sonst üblich, durch die Vorderleute teilweise verdeckt wird.
Mit der Brille kann man aber auch mal nach rechts oder links schauen, sieht Bäume wachsen oder im zweiten Akt die steile Wand, die Klingsors Reich umgibt. Im dritten Akt, wo auf der Bühne ein Bagger-Wrack dominiert, der von der übertriebenen Naturausbeutung zeugt, fühlt man sich wie in einer Meereslandschaft, in der allerhand Hinterlassenschaften der Menschheit durch die Gegend schweben – vor allem Plastikflaschen und Batterien. Und durch die Szene springt ein Fuchs. Wenn man sich den Spaß macht, auf den Boden zu blicken, findet die erweiterte Realität tatäschlich eine Fortsetzung. Manche dieser AR-Bilder wirken vielleicht noch statisch. Aber der Anfang ist gemacht. Und es wird interessant sein zu sehen, wohin dieser Weg führt.
Apple hat in diesem Jahr seine AR-Brille vorgestellt. Noch kostet das Teil 3500 US-Dollar, zeigt aber, dass Augmented Reality eine ernst zu nehmende Entwicklung ist. Auch Autobauer testen bereits die Einsatzmöglichkeiten von AR. Vielleicht sitzen wir in ein paar Jahren alle mit unseren eigenen AR-Brillen im Festspielhaus und buchen Inhalte per App dazu, zum Beispiel die Texte. Über eine Übertitelungsanlage im Bayreuther Festspielhaus braucht man darum jetzt sicherlich nicht mehr zu diskutieren,