Eigentlich ist Patric Seibert (39) Regieassistent und übernahm diese Zusatzaufgabe. Kein Job zur Gaudi, auch wenn er manchmal lustige Dinge tut. Seibert, Berliner, der derzeit in Wien lebt und seit dieser Saison Leitender Dramaturg am Theater Meinigen ist, soll dafür sorgen, dass das Stück nicht nur gespielt bzw. gesungen, sondern gelebt wird. Der omnipräsente Darsteller gibt auf der Bühne ebenfalls alles und der Treppensturz im 1. Akt der „Götterdämmerung“ funktioniert nur schmerzfrei, „wenn ich relativ entspannt bin. Ansonsten kann’s richtig weh tun“, erzählte Seibert 2014 im Interview mit festspielblog.
festspieleblog.de Patric Seibert, Sie sind ja nicht nur auf der Bühne omnipräsent, sondern auch außerhalb des Festspielhauses viel in Sachen „Ring“ unterwegs. Muss der Ring von Frank Castorf besser verkauft werden?
Patric Seibert. Das weiß ich nicht, aber es hilft sicherlich mit den Menschen zu reden, für die die Arbeit von Frank Castorf ganz unbekannt und neu ist, die also zum ersten Mal etwas von ihm sehen. Im Schauspiel ist das etwas ganz anderes, ein Schauspielpublikum weiß normalerweise ganz genau, was es erwartet, wenn es in die Volksbühne oder andernorts in eine Inszenierung von Castorf geht. Es ist eine für die Oper sehr ungewöhnliche Herangehensweise, die eine gewisse Offenheit vom Publikum verlangt. Für diese Offenheit mache ich Werbung, und darin sehe ich auch zum Teil meine Aufgabe als dramaturgischer Mitarbeiter.
„Wenn alle es bejubeln würden, dann kann ja auch etwas nicht in Ordnung sein.“
Und funktioniert das?
Ich habe den Eindruck, dass ich den Leuten, mit denen ich gesprochen habe, das Konzept schon näher bringen konnte und die das auch verstanden haben. Wenn man aber mit einer Trillerpfeife in eine Vorstellung hineingeht, dann ist das ja auch schon eine innere Einstellung. Dann ist klar, dass man die auch benutzen möchte.
Wobei es ja auch die Theorie gibt, dass es eine Bestrafung wäre für Herrn Castorf, wenn das Publikum seine Inszenierung durchwegs bejubeln würde.
Ich weiß nicht. Nein. Man hat ja auch seine Eitelkeit. Und es gibt ja auch nicht nur die Buh-Fraktion. Es gab Leute, die die Regie mochten. Das Publikum war sehr gespalten – die Presse ja übrigens auch. Natürlich: Wenn alle es bejubeln würden, dann kann ja auch etwas nicht in Ordnung sein.
Das sagen wir „konservative“ Publikum war sehr einverstanden mit der Walküre. Gehörte das zum Plan, an diesem zweiten Abend ein richtig durchinszeniertes Stück zu zeigen?
Da das Ring-Konzept ja als Zeitreise angelegt war, sind die einzelnen Stücke auch so inszeniert, wie sie in ihre Zeit gehören. Da ist das Rheingold mit Action und unglaublich viel Farbe. Das ist die Technicolor-Zeit der 50er, 60er, 70er Jahre. Dann haben wir mit der Walküre das Baku Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Bilder eben gerade erst laufen lernten. Das ist die dementsprechende Inszenierungsweise. Das hat natürlich auch damit zu tun, mit welchen Sängern man arbeitet. Aber das passte uns sehr gut ins Konzept.
„Ich denke, was Herrn Castorf da über die Leber gelaufen ist, war, dass es halt überhaupt keine Kommunikation gab.“
Hat das Spaß gemacht, diesen Ring in so kurzer Zeit auf die Bühne zu bringen?
Es gab Proben, die unglaublich toll waren, die sehr befriedigt haben; es gab aber auch wie in jeder Produktion ganz furchtbare Proben. Wenn ich zurückblicke, muss ich schon sagen, dass es eine sehr, sehr gute Zeit war. Es hat sehr viel Spaß gemacht, die Menschen alle kennenzulernen.
Kommen wir zu Ihrer Rolle. Es ist ja nicht gerade alltäglich, dass der Regieassistent gleichzeitig Darsteller ist. Wie kam’s?
Frank Castorf arbeitet sehr gerne mit Laien auf der Bühne, weil er gerne ein irritierendes Moment mit einfügt. Schauspieler geraten ja auch gerne mal in einen gewissen Trott hinein. Und wenn da ein Nicht-Schauspieler ist, dann irritiert die das auch etwas. Wir hatten uns vorher einmal über Samuel Beckett unterhalten und die stumme Figur. Als wir im Siegfried mit der ersten Szene anfingen und zur Stelle mit dem Bären kamen, stand das zur Debatte. Und ob ich das mache oder mein Kollege Wolfgang Gruber das macht. Ich habe gesagt, ich mache das jetzt mal für heute. Und das hat Frank Castorf sehr gut gefallen; mir hat das auch sehr, sehr große Freude gemacht, das konnte ich auch gut ausstrahlen. Ab dem 1. Siegfried-Akt bin ich nicht mehr von der Bühne gekommen.
„Cola ist ein Wundermittel gegen Lampenfieber.“
Haben Sie Schauspielerfahrung?
Ich komme aus einer Familie, die sehr eng mit dem Theater verbunden ist. Meine Großmutter war Schauspielerin, mein Onkel Filmregisseur und mein Großvater hat Stücke geschrieben. Von daher ist mir die Schauspielerei nicht fern. Ich hatte auch während meines Regiestudiums Schauspielunterricht, das gehört dazu. Aber ich würde mich niemals als Schauspieler sehen. Ich schwitze da auch Blut und Wasser. Von Martha Argerich weiß man, dass sie vor Auftritten immer schrecklich aufgeregt ist. Ich verstehe das. Ich habe auch eine richtige Übelkeit, wenn da der Vorhang aufgeht. Das ist nicht so ohne.
Was tun Sie dagegen?
Cola! Zucker ist ein Wundermittel gegen Lampenfieber.
Wobei Sie ja immerhin nur auf der Bühne sein müssen – und keinen Text haben, also auch nichts vergessen können.
Manchmal wäre ich froh, wenn ich sprechen könnte. Was mir sehr schwer fällt, über eine Stunde und 20 Minuten – im Rheingold ja über zwei Stunden – ein Pacemaker zu sein, aber nicht aktiv teilnehmen zu können durch Singen oder Sprechen. Aber es gibt kein enges Korsett, in das ich eingezwängt wäre. Es ist nicht so, dass, wenn der das singt, ich dieses oder jenes tun müsste. Es gibt nur ein grobes Gerüst und innerhalb dieser Skizze agiere ich – auch, um immer Unsicherheit zu erzeugen.
Beim Publikum oder bei den Sängern?
Bei den Sängern.
Erzeugt Unsicherheit mehr Energie oder mehr Konzentration? Oder warum müssen Sänger verunsichert werden?
Das auch. Aber eine Überraschung auf der Bühne fordert auch immer eine Reaktion heraus. Und diese Reaktion ist immer authentisch und wirkt dann nicht gespielt. Genau das ist es, was Herrn Castorf interessiert.
Also passiert es, dass Sie einfach mal im Weg rumstehen müssen?
Im Prinzip ja. Da werde ich auch mal über den Haufen gerempelt.
Was war für Sie das Überraschendste, was passiert ist?
Es passiert immer was Lustiges. Einmal ist einem unserer Götter im Rheingold die Waffe in den Pool gefallen, und ich dachte, ach Gott, der kann ja jetzt gar nicht weiterspielen, bin dann in den Pool gesprungen und habe die Waffe wieder rausgeholt. Das gefiel dem Herrn Castorf dann so gut, dass er sagte: Das lassen wir jetzt so. Wir haben das dann auch ein bisschen als Running Gag aufgezogen. Darum muss ich halt in dem Rheingold immer in diesen Pool.
Sind Sie also bereit, entschuldigen Sie den Ausdruck, den Deppen vom Dienst zu geben, und auch mal im Pool zu tauchen, den Bären zu machen und solche Sachen?
Ja. Das ist das, was Frank Castorf möchte. Und es ist das, was das Revolutionäre, was die Volksbühne in Berlin so ausmacht, dass man nicht dieses Peter-Stein’sche, dieses bürgerliche Theater, hat, in dem man sitzt und sich wohlfühlt. Sondern dass man Leute hat, die tatsächlich selber an ihre Grenzen gehen und sich ständig in Extremsituationen sowohl körperlich als auch geistig begeben. Und die so überfordert sind, dass sie gar nicht mehr spielen können. Der Nicholas Ofczarek hatte das gesagt bei ‚Kasimir und Karoline‘ in München, weil er ständig die Bühne umbauen muss und ständig irgend etwas zu tun hat, überhaupt keine Zeit hat, das zu spielen, sondern dass er wirklich dieser Kasimir ist. Darum geht es Frank Castorf.
„Jeder hat ein anderes Bild von der Vorstellung.“
Also nicht überlegen, sondern impulsiv handeln?
Ja. Theater und Oper, das sind immer Abhandlungen und Konventionen. Das sieht man ständig und überall und das kann langweilig werden. Es geht Frank Castorf nicht um eine Ästhetik. Es ist auch nicht jede Vorstellung wie die andere. Von daher sieht auch jeder im Publikum eine andere Vorstellung. Also einer sieht die Video-Projektion, ein anderer nicht. Und so hat auch jeder ein anderes Bild von der Vorstellung. Das ist es, was ihn interessiert: dass es immer frisch ist, dass es immer neu erfunden ist, dass es nicht die 180. Reproduktion ist.
Haben Sie eigentlich diesen Ring schon einmal gesehen?
Nein. Ich hatte einmal den zweiten Akt Walküre geschaut, weil das ist der einzige Akt, in dem ich nicht vorkomme.
Würden Sie das ganze Werk einmal interessieren?
Sicher. Es gibt ja auch hausinterne Aufzeichnungen. Ich bin immerhin einer der Regieassistenten, die ja auch die Regiebücher schreiben. Und bei Castorf läuft es so: Jede Probe, die er macht, wird gefilmt. Alles was gemacht wurde, wird abgetippt und wird im Regiebuch festgehalten.
„Ich möchte noch ein bisschen in mich gehen und lesen und sehen.“
Also wird das Regiebuch erst später geschrieben?
Für jede Probe wird eine Dokumentation angelegt. Es gibt auch ein grobes Korsett.
Sie haben ja selbst Regie studiert und Leitender Dramaturg im Theater Meiningen. Führen Sie selbst Regie?
Ich bin gerade mit der Dramaturgie sehr glücklich, weil es die Möglichkeit und die Zeit gibt, erstens viel zu lesen und ich zweitens auch die Möglichkeit habe, viel zu sehen. Und ich möchte noch ein bisschen in mich gehen und lesen und sehen.
Würde eine Regie von Patric Seibert an Frank Castorf erinnern?
Nein, ich bin doch eher ein Kontrollfreak. Ich habe ja nicht immer nur mit Frank Castorf gearbeitet, sondern auch mit Leuten gearbeitet wie mit Philipp Himmelmann oder Michael Hampe, mit Vera Nemirova und Götz Friedrich und habe sehr viel gelernt. Und ich bin so etwas wie ein Synkretist – ich nehme mir von allem das, was mir gemäß ist. Wichtig ist zum Beispiel, wie man von Menschen etwas bekommt, das man haben möchte. Da gibt es die verschiedensten Strategien bei den verschiedensten Regisseuren. Da habe ich von allen etwas gelernt. Von Castorf habe ich sehr viel gelernt, vor allem auch so eine Art Ruhe, also nicht zu versuchen, etwas zu erzwingen, sondern mehr zu schauen, wen habe ich da vor mir und was mache ich mit dem. Ja, und dass nicht immer unbedingt das wichtig ist, was man selbst im Kopf hat, sondern dass Dinge viel interessanter sind und eine andere Wendung bekommen, wenn man auf Vorschläge hört.
Waren Sie das bisher nicht?
Es ist ganz interessant. Ich habe zweimal bisher „Das Tagebuch der Anne Frank“ gemacht, 2005 an der Oper in Köln und 2012 noch einmal in Bremen. Ich hatte zuerst ein ziemlich verkopftes Konzept und war nach der Kölner Inszenierung nicht so wirklich zufrieden. Und jetzt hatte ich 2012 nochmal die Chance, das Stück zu machen – und es ist etwas ganz anderes herausgekommen. Es gab Leute, die beides gesehen haben und meinten, da waren zwei unterschiedliche Regisseure am Werk.
„Ich weiß immer, an welcher Stelle wir sind.“
Wissen Sie auf der Bühne eigentlich immer, an welcher Stelle des Stückes Sie sich befinden? Kennen Sie alle Texte?
Ja. Ich habe am Ring 2000 in Sankt Petersburg mitgearbeitet. Und da waren die Proben so intensiv, dass ich den Text dann schon ziemlich gut kannte. Ich höre auch relativ viel Wagner – der erste Akt Siegfried ist einer meiner Lieblingsakte. Den höre ich mir auch mal einfach so an; oder auch das Rheingold. Da war nun nicht mehr so viel zu lernen. Also ich weiß immer, an welcher Stelle wir sind. Und Wagner reimt sich ja auch und ist deshalb gut zu merken.
Was, wenn Sie während der Aufführung eine schräge Idee haben und die dann einfach mal umsetzen. Geht das?
Es kommt auf die Schrägheit der Idee an. Ich habe während der Proben und Generalproben noch einige Dinge angeboten und dann sagt Castorf, das ist gut, das ist nicht gut. Alle sind angehalten, lieber mehr anzubieten als zu wenig.
War zu Beginn der Zusammenarbeit mit Frank Castorf das Schauspiel geplant?
Er hatte Ideen von Schauspielschülern, die er eventuell dabeihaben wollte. Dann gab es die Idee, Schauspieler zu engagieren. Das war aber sehr schwer, weil diese Leute ja dann vier Monate hier sein müssten. Die Idee, noch einen Faktor hineinzubringen, die war schon immer da. Aber wir hatten das erst einmal ad acta gelegt. Vielleicht hatte er es immer noch in der Hinterhand, das traue ich ihm auch zu, und er spielte dann erst die Karten aus. Aber es entstand tatsächlich spontan.
Was wäre Ihr Job gewesen, wenn Sie nicht als Bär bei Siegfried steppen?
Das Regiebuch führen, also jeden Handgriff, jeden Blick aufzunotieren. Dann hat Herr Castorf ja auch keinen Führerschein, und es gibt ja auch noch die Intendanz in Berlin. Das heißt, die Strecke Bayreuth – Berlin muss auch bewältigt werden. Dann habe ich als Dramaturg auch das Programmheft zu schreiben und zu gestalten, das habe ich jetzt ebenfalls gemacht. Dann gibt es ganz viel Korrepondenz, die aus seinem Büro hierherkommt und erledigt werden will.
War die Schauspielerei quasi eine Zusatzaufgabe für Sie?
Ja, natürlich. Das erste Jahr war schon hart. Ich habe auch wenig zusammenhängende Erinnerung daran, weil ich ständig von einem Event zum anderen gehetzt bin.
Interview: Regina Ehm-Klier
Patric Seibert eröffnete am 29. Juli 2015 die „Zäsuren“ der Bayreuther Festspiele. In dieser Reihe werden regelmäßig Regieassistenten Einblick in die Arbeit geben. Seibert ist noch einmal am 11. und am 23. August zu Gast. Mehr über die erste Veranstaltung hier. Die weiteren Termine der Zäsuren: http://www.bayreuther-festspiele.de/deutsch/einblicke/zaesuren_572.html